Die zweite CD unserer Reihe "Old World Tangos" konzentriert sich auf die "romanischen" Länder Italien, Frankreich und Rumänien - mit einer griechischen Zugabe.
Die Recherchen zu den einzelnen Titeln waren oft schwierig - bei einigen Sängern kennen wir nicht einmal die Vornamen. Tango ist Unterhaltungsmusik, und hier geht man offenbar davon aus, daß kein Interesse an ernsthafter Information über Leben und künstlerischen Werdegang besteht.
Besonders gilt das für ITALIEN. Die einzige Informationsquelle für populäre Musik sind hier oft die Jahresrückblicke des Schlagerfestivals von San Remo, und das ist einer großen Musiknation wie Italien unwürdig. Einzig CARLO BUTI (1900-1963) ist ein bekannter Name, den man nicht nur mit Tango in Verbindung bringt; aber schon für den grandiosen OSCAR CARBONI gilt das oben gesagte - ein winziger Hinweis auf seinen Auftritt in San Remo 1951 - der Rest verschwindet im Dunkel der Popgeschichte.
Der große korsische Sänger TINO ROSSI (1907-1983) dagegen strahlt immer noch im hellen Licht der Popularität - nicht nur eine eigene Website zeugt von der anhaltenden Verehrung seiner Fans.
Einen besonderen Platz auf dieser CD nimmt wieder RUMÄNIEN ein, das wir schon auf der ersten CD der OLD WORLD TANGO-Reihe ("Echoes from afar", RIENCD20) als historisch-musikalische Entdeckung präsentieren konnten. Besonders stolz sind wir auf die Aufnahmen des legendären "Zaubervogels" MARIA TANASE (1913-1963). Es sind die beiden einzigen Tangos, die sie gesungen hat, und diese Aufnahmen sind nirgendwo archiviert, sondern nur noch auf den wenigen verbliebenen Original-Schellacks zu finden. Ein musikalischer Schatz, wenn auch zugegebenermaßen die Tonqualität dürftig und "Juanita" kein echter Tango ist. Hier überwiegt der Entdeckerstolz - Tango- und HiFi-Puristen mögen uns verzeihen. Und "Juanita" ist allein schon wegen des unglaublichen Pianisten eine Veröffentlichung wert.
JEAN MOSCOPOL (1903-1983) und TITI BOTEZ (1901-1957) sind schon von der "Echoes"-CD bekannt und werden hier ergänzt durch den "letzten Troubadour" CRISTIAN VASILE (1908-1985) und den geheiminisvollen GION (1910-?), von dem wir nur in Erfahrung bringen konnten, dass er in den frühen 30 Jahren als Kaffehaus-Sänger im rumänischen Kurort Sinaia rauschende Erfolge feierte.
Und zu guter Letzt noch zwei griechische Tangos, gesungen von DIMITRIS PHILIPPOPOULOS, und irgendwie auch romanisch - hat es doch nie eine wirklich "griechische" Tangoszene gegeben, sondern eher eine Orientierung an den Vorbildern Italien und Frankreich. Was keineswegs gegen die Qualität der beiden Phillipopoulos-Tangos spricht. (s. dazu auch die Anmerkungen zu RIENCD20)
Und noch etwas gilt es zu feiern - eine Art "Denkmal des unbekannten Tango-Gitarristen". Zum ersten Mal schlich er sich bei den Tangos in unser Ohr, die Pjotr Leschenko (s. RIENCD06 und 12) in den 30er Jahren eingespielt hat. Ein unverkennbarer, hinreißend schmalziger Hawaiigitarrenton, der sofort aufhorchen ließ, und der uns auf zahlreichen Tango-Aufnahmen aus England, Rumänien, Italien wiederbegegnete. Gemeinsam ist allen diesen Aufnahmen, dass sie für die in den 30er Jahren ungemein rührige Firma Columbia entstanden. Auf der vorliegenden Zusammenstellung ist der unbekannte Meister ebenfalls zu hören - auf dem griechischen Tango "Mesanichta", auch dies eine Columbia-Aufnahme. Handelt es sich hier um Zufall, um eine ganze Gitarristen-Schule oder um den ewig wandernden Hawaiigitarristen, der überall dort in Europa auftauchte, wo Tangos für die Columbia aufgenommen wurden? Wir wissen es nicht, sind aber für Hinweise dankbar.
Till Schumann
Der Tango im Europa der 20er und 30er Jahre - ein Gesellschaftstanz, eine Musikrichtung, ein Lebensgefühl?
Schon vor dem 1. Weltkrieg kamen die ersten argentinischen Tangomusiker nach Paris, um dort Aufnahmen von ihrer neuen Musik zu machen. Künstlerkreise, Intellektuelle, aber auch die Aristokratie begannen sich für diese unerhörte Tanz- und Musikform zu interessieren. Der argentinische Tango war getanzter und musikalischer Ausdruck der Entwurzelung, Armut und Hoffnungslosigkeit der Einwanderer, aber auch der Kompensation durch die Erotik, die vordem noch nie in dieser Direktheit dargestellt worden war. Diese Elemente des "Verruchten", der Gosse, des "Verbotenen" wurden in den Salons vieler europäischer Metropolen als künstlerische Stilmittel aufgenommen. Doch ein wirkliches Verstehen des argentinischen Tango war den meisten Europäern dieser Zeit nicht möglich. Der Tango als Tanz entwickelte sich hier zum Gesellschaftstanz; er wurde seiner kreativen Kraft beraubt und bekam feste, leicht nachvollziehbare Regeln für die Ballsäle der vergnügungshungrigen "Jeunesse Dorée" der 20er und 30er. Die Orchester, die den Tango spielten, waren Unterhaltungsorchester im besten Sinne. Häufig wurde das Bandoneon (übrigens ein in Deutschland erfundenes Instrument) durch das leichter spielbare Akkordeon ersetzt. Die Texte der Tangos waren romantisch, träumerisch, provozierten selten, waren im extremsten Fall melancholisch. Die Sehnsucht nach der alles erlösenden, romantischen Liebe war in den meisten zu finden, im Gegensatz zu der drastischen, lebensnahen Poesie der argentinischen Texte.
Der europäische Tango ist ein Klischee. Er inszenierte ein Lebensgefühl, das die Menschen in Europa auf ihrer Suche nach Identität in einer sich verändernden Welt, die nach dem 1. Weltkrieg durch fortschreitende Industrialisierung gekennzeichnet war, gerne annahmen. Auch in Europa war der Tango in erster Linie auf die Metropolen bezogen. Er war überregional und entwickelte seine Anziehungskraft über nationale und kulturelle Grenzen hinweg. Deshalb wurden viele erfolgreiche Tangos in verschiedene Sprachen übersetzt. Der Tango in Europa war schon vor siebzig Jahren ein Ausdruck der Globalisierung, lange bevor dieser Begriff in unseren Sprachgebrauch aufgenommen wurde. Europäischer Tango war Unterhaltungsmusik, Schlager, Gesellschaftstanz, der nationale Grenzen und Traditionen überschritt. Er war nicht mehr, aber auch nicht weniger: Popmusik der goldenen 20er und 30er, ein musikalisches Bindeglied der urbanen Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts.
Gigi Backes