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Trauriger Sonntag
Als im Februar 1936 ein Selbstmörder in Budapest einen Abschiedsbrief hinterließ, der auf den Text eines drei Jahre alten und bis dahin mäßig erfolgreichen ungarischen Liedes verwies, war das die Geburt einer Legende. Und es ist sicher kein Zufall, dass bereits ein Jahr zuvor eine andere Legende sich dieses Liedes angenommen, einen russischen Text dazu verfasst und es aufgenommen hatte - Pjotr Leschenko, der charismatische Sänger von Tangos und Zigeunerromanzen, der auf dem besten Wege war, von seinem Bukarester Exil aus Europa zu erobern.

Hier die Ballade vom "Traurigen Sonntag", die in der Folge zu einer Art Hymne für Suizidgefährdete zu werden drohte und in Ungarn, USA und Großbritannien deswegen sogar aus dem Rundfunk verbannt wurde; dort der russische Patriot Leschenko, dem eine Rückkehr in seine Heimat verwehrt wurde, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort (nämlich während der rumänischen Okkupation in Bessarabien) gelebt hatte und einen Musikstil pflegte, den die sowjetischen Kulturpolitiker als dekadent und bourgeois einstuften. Und das trotz seiner ungeheuren Popularität in Russland, wo seine Platten als Konterbande gehandelt und illegal nachgepresst wurden.

Es ist viel darüber spekuliert worden, worauf die Wirkung von "Szomorú vasárnap" - so der ungarische Originaltitel - beruht. Der ursprüngliche Text von Reszô Seress, der das Lied auch komponierte, war zutiefst hoffnungslos, beklagte den Zustand der Welt, die Sünden der Menschen, Krieg und Gewalt. Der später entstandene Text des Dichters László Jávor bezieht sich auf das Ende einer Liebe - "privatisiert" den Text sozusagen, ist aber ebenfalls von tiefer Verzweiflung geprägt.

Vieles weist darauf hin, dass die Wirkung des Liedes nicht nur mit seinem Text zu tun hat. Der Verfasser der englischen Version mit dem Titel "Gloomy Sunday", die u.a. von Billie Holiday, Elvis Costello und Marianne Faithfull gesungen und aufgenommen wurde, fügte eine dritte Strophe hinzu, um die Depression abzumildern - ohne Erfolg. Selbst eine Instrumentalversion, die in England aufgenommen wurde, um dem Bann der BBC zu entgehen, hatte den gleichen fatalen Effekt wie die Textfassung - sie schien Menschen magisch anzuziehen, die ihrem Leben ein Ende setzen wollten. Und beim genauen Hinhören merkt man, dass die musikalische Struktur von "Szomorú vasárnap" jenseits der Implikationen des Textes eine Art musikalische Hoffnungslosigkeit aufweist: Es fehlt ein Refrain, der die Spannung abbaut oder gar löst - das Lied hängt gewissermaßen in der Luft und entzieht sich der üblichen Harmonisierung durch einen "runden" Schluss. Es endet auch in seiner Form im Ungelösten, mit einem dunklen Fragezeichen. Dass von hier eine direkte Verbindung zu zahlreichen Selbstmorden gezogen werden kann, mag übertrieben erscheinen. Fest steht, dass sich viele Selbstmörder direkt oder indirekt auf "Szomorú vasárnap" bzw. "Gloomy Sunday" bezogen - sicher nicht im Sinne eines Grundes oder Auslösers für ihren Entschluss, vielleicht aber um sich verständlicher zu machen, um etwas auszudrücken, das auszudrücken sie selbst nicht imstande waren.

Und ebenfalls fest steht, dass dieses Lied nichts von seiner Faszination und Anziehungskraft verloren hat. Es ist bis heute unzählige Male aufgenommen worden, es gibt einen melodramatischen Kinofilm über die Entstehung dieses Liedes, und seine historischen und aktuellen Aspekte werden auf einer eigenen Webseite diskutiert.

All dies hat Leschenko bei seiner Version noch nicht wissen können - wie nicht anders zu erwarten, bezieht sich seine Übersetzung ins Russische auf den Text von László Jávor. In Leschenkos Welt, der Welt der galanten Männer und der koketten Frauen, kann Verzweiflung nur eine Ursache haben: die unglückliche Liebe zu einer Frau. Aber auch er, der stilsichere Meister der dramatischen Gesten und der großen Gefühle, muss gespürt haben, dass dieses Lied eine Art von Hoffnungslosigkeit in sich birgt, deren Ursachen wenig mit einer gescheiterten Liebe zu tun haben - es ist das Leiden an der Welt, an der Unvollkommenheit der Menschen, und das war auch Leschenko vertraut. Sonst hätte er dieses Lied nicht gesungen, und vor allen Dingen hätte er es nicht so gesungen.

 

 


Der russische Text von Pjotr Leschenko in der Übersetzung von Armin Lai

 

Trüber Sonntag und verwelkte Rosen

Geweint und gebetet mit düsteren Augen in meinem kleinen Zimmer

Allein ohne Dich leben, ist mir unmöglich

Tränen wie Regen rinnen über meinen Mund

Wohin bist du verschwunden

Trüber Sonntag

Trüber Sonntag, du stürzt auf mich ein

Wovon soll ich in der Leere noch sprechen

Mein aufgewühltes Herz schlägt laut in der Brust

Ewigkeiten warte ich bei Kerzenlicht auf die Zärtlichkeit deiner Hände

In den toten Augen schon keine Tränen

Ich verabschiede mich von dir mein trüber Sonntag

Trüber Sonntag

Tracks:

1. Skutschno - Langweilig (Tango) 3:05
Hörbeispiel:
2. U Samowara - Am Samowar (Foxtrott) 3:00
3. Mratschnoje Woskresenje - Trauriger Sonntag (Romanze) 3:19
Hörbeispiel:
4. Ty I Eta Gitara - Du und diese Gitarre (Tango) 2:58
5. Vjesjelis, Duscha - Seele, du sollst heiter sein (Zigeunerromanze) 3:18
6. Uwjali Grezy - Die Träume sind verwelkt (Tango) 2:51
7. Saschka (Foxtrott) 2:54
8. Serenada - Serenade (Romanze) 3:12
9. Miranda (Tango) 3:04
10. Kawkaz - Kaukasus (Foxtrott) 3:09
11. Komarik - Kleine Mücke (Ukrainisches Volkslied) 2:59
12. Spi, Moje Bednoje Serdtse - Schlaf, mein armes Herz (Tango) 3:15
13. Karije Otschi - Kastanienbraune Augen (Ukrainisches Volkslied) 3:11
14. Marfuscha (Foxtrott) 3:02
Hörbeispiel:
15. Vino Ljubwi - Wein der Liebe (Tango) 2:53
16. Loschadki - Die Pferdchen (Foxtrott) 3:14
17. Pesn Gitary - Gitarrenlied (Romanze) 2:59
18. Ja By Tak Chotel Ljubit - Ich würde so gerne lieben (Tango) 3:12
19. Koletschko - Das Ringlein (Romanze) 3:27
20. Andrjuscha (Foxtrott) 2:52
21. Osennij Mirasch - Herbstphantom (Tango) 2:58
22. Aljescha (Foxtrott) 2:52
23. Moje Posledneje Tango - Mein letzter Tango (Tango) 3:09

Gesamtspielzeit: 71:07

 

Aufgenommen 1931, 1934, 1935 & 1937 in Berlin, London und Riga
Überarbeitet und restauriert von Misiak Mastering, Hamburg

veröffentlicht am 20.10.2005